Wenig treibt die Personalentwicklung und HR derzeit so um, wie das Thema „Agilität“. Und zwar gleich von zwei Seiten. Zum einen ist die Personalentwicklung gefordert, agile Prozesse im Unternehmen mitzuentwickeln und zu verankern. Zum anderen muss auch das Selbstbild und die Arbeit der Personalentwicklung unter dem Blickwinkel der Agilität völlig neu bewertet werden. Aus Gesprächen mit Kunden wissen wir, dass Agilität in jedem Unternehmen und oft auch innerhalb von Unternehmen sehr unterschiedlich definiert und bewertet wird. Für mehr Orientierung sorgt das Buch „Agiles Lernen“, das die drei AutorInnen Nele Graf, Denise Gramß und Frank Edelkraut jetzt vorgelegt haben. Es ist ein gelungener Wurf, weil er das Thema „Agilität“ in Bezug auf das Lernen und auch in Bezug auf die Gestaltung von Lernarchitekturen vom Allgemeinen ins Konkrete holt. „Agiles Lernen“ zeigt, was „agil“ für die Personalentwicklung bedeuten kann und welche Methoden es bereits gibt, um die Personalentwicklung agil zu gestalten.
Wenn es um Agilität geht, fallen immer zuallererst zwei Stichworte: VUCA und „Agiles Manifest“. VUCA liefert die Begründung für die Notwendigkeit, Prozesse agil zu gestalten. Und das „Agile Manifest“ hat einen Rahmen geliefert, um „Agilität“ handlungswirksam zu machen. Die Autoren übersetzen das aus dem amerikanischen kommende Akronym VUCA mit „Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit“. Auch wenn der Begriff inzwischen gesickert sein dürfte: Die Konsequenzen, die sich aus dieser Zustandsbeschreibung ergeben, sind noch lange nicht abzusehen. Sicher ist nur, dass die beiden Treiber der VUCA Welt, nämlich Digitalisierung und Globalisierung, dabei sind, die Welt, wie wir sie kennen, komplett auf den Kopf zu stellen. Was zumindest mir neu war, ist der Verweis der Autorinnen auf die Herkunft des VUCA Begriffs. Er entstamme nicht den Hotspots des Silicon Valley, wie ich vermutet hätte, sondern sei im US-amerikanischen Militär entstanden. Sie zitieren in diesem Zusammenhang die US Marines (leider nur per Link auf die Homepage): „You cannot control your environment. Do not try to control your environment. Instead, understand your environment, including its terrain, risks, fluidity and opportunities. Assess, then execute, and correct as you go.“ Das ist, wenn auch aus unvermuteter Quelle, die Blaupause für agiles Arbeiten in Unternehmen. (Es gibt einen umfangreichen Anhang im Buch, der speziell auf das Thema VUCA und US Marines eingeht, wirklich gut gemacht, Kompliment! Kleine Bitte an die AutorInnen: wenn einer von Ihnen den korrekten Link zum obigen Zitat im Kommentarfeld posten könnte, freue ich mich – Danke)
Wer von Agilität redet, kommt um das agile Manifest nicht herum. Auch im Buch "Agil lernen" werden die im agilen Manifest benannten Werte nochmal wiedergegeben:
Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge.
Funktionierende Software ist wichtiger als umfassende Dokumentation.
Zusammenarbeit mit dem Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlung.
Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.
Damit stellt sich natürlich die Frage: Was hat das mit der Personalentwicklung zu tun? Sind das nicht entweder alles Selbstverständlichkeiten oder zumindest Punkte, die für die PE irrelevant sind? Meines Erachtens trägt das „agile Manifest“ eher zur Verwirrung denn zur produktiven Auseinandersetzung bei. Es wurde schon 2001 (!) veröffentlicht und mag für Softwareentwickler ein Meilenstein gewesen sein. Es ist deshalb gut, dass sich die Autoren nicht lange mit dem agilen Manifest aufhalten, sondern Agilität eher als Mindset und dem Wortsinn nach begreifen. Agilität lässt sich in Bezug auf das Corporate Learning dann am besten durch die Gegenüberstellung begreifen, die im Buch „Agiles Lernen“ auf Seite 61 zu finden ist:
Traditionelles Lernen Agiles Lernen
strategisch (Unternehmen) individuell
Learning for supply Learning on Demand
Off the job On the job
Wissen Kompetenz
formal informell und non-formal
fremdgesteuert selbstgesteuert
analoge Formate digitale Formate
synchron asynchron
Agiles Lernen braucht auch Methoden. Dazu liefern die Autoren im vierten Kapitel einen sehr guten Überblick über die aktuell diskutierten Formate von Work Out Loud bis zu Ted Talks und Social Collaboration. Sie zeigen auch auf, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit diese Formate überhaupt „angewendet“ werden können. Hier spielt immer wieder das Thema „digitale Kompetenz“ hinein. Damit wird deutlich, dass „Agiles Lernen“ nicht einfach bedeutet, neue Formate einzusetzen, sondern dass es vor allem darum geht, Lernen im Unternehmen neu zu begreifen.
Einen hohen Nutzwert erhält das Buch, weil die Autoren zwar neue Wege aufzeigen, aber im gleichen Atemzug deutlich machen, dass es selten um ein „Entweder-Oder“ geht. Wie die Arbeitsmethoden von Softwareentwicklern nicht zwangsläufig den Personalentwicklern oder, um ein ganz anderes Beispiel zu nehmen, den Piloten (von denen erwarte ich Null-Fehler-Toleranz) übergestülpt werden können, so kann auch nicht allen Unternehmen plötzlich „Agiles Lernen“ verordnet werden. Es wird, wo das Autorentrio, weiterhin zu den Aufgaben der Personalabteilung gehören, Lernformate und Lerninhalte einzukaufen und auszuliefern. Es wäre ein Rückschritt, wenn die Mitarbeiter plötzlich ihre Entwicklung komplett aus sich selbst heraus organisieren müssten - es wäre, als ließe man die Mitarbeiter jeden Tag das Rad neu erfinden. Das selbstorganisierte und möglichst kollaborative Lernen in selbstorganisierten Teams, die ihren „Content“ selbst entwickeln, kann ein Zielbild sein. Wir dürfen aber die Realität dabei nicht aus den Augen verlieren. Zur dieser Realität, die wir auch in Gesprächen mit Kunden so wahrnehmen, gehört, dass sich die Arbeitskontexte der Mitarbeiter immer mehr verdichten und das gewünschte selbstorganisierte Lernen dabei als erstes auf der Strecke bleibt. Damit ist nicht der klassische Performance Support gemeint, sondern die systematische Entwicklung von Fähigkeiten. Wenn „mobiles“ Lernen dann den Möglichkeitsrahmen der Mitarbeiter dergestalt erweitert, dass sie jetzt mühelos auch am Abend und am Wochenende lernen können, verwundert es nicht, wenn der Betriebsrat sich querstellt. Die Autoren machen diese Problematik anhand des im Anhang vorgestellten Fallbeispiels deutlich. Dort erforschen die Personaler der erfundenen Meier GmbH, einem mittelständischen Maschinenbauunternehmen mit 1.000 Mitarbeitern, den Weg in die Zukunft der agil arbeitenden Personalentwicklung mit der Aufgabenstellung, agiles Lernen zu implementieren. Ein sehr gut gewähltes Beispiel, weil es eben nicht im modernen IT-Umfeld angesiedelt ist, sondern in der Realität des deutschen Mittelstands. Sehr gut auch, weil so die Zweifel, die Risiken und die Chancen aufgezeigt werden, die sich der Personalentwicklung in mittelständischen Unternehmen bieten. Fast hätte man sich gewünscht, dieses Kapitel wäre nicht im Anhang, sondern im Zentrum des Buches gelandet.
Die Personalentwicklung, so viel dürfte heute unbestritten sein, wird sich in den nächsten Jahren radikal wandeln. Das Buch „Agiles Lernen“ zeigt die Baustellen auf, die sich auf dem Weg dahin ergeben. Es sind, weil das nicht möglich wäre, keine Rezepte. Aber das Buch liefert allen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, eine hervorragende Diskussionsgrundlage.
Das Buch: Nele Graf, Denise Gramß, Frank Edelkraut: Agiles Lernen. Neue Rollen, Kompetenzen und Methoden im Unternehmenskontext, Haufe 2017